Als das Klima in Deutschland noch deutlich kühler war, machte das alles sehr viel Sinn. Das Aufzuckern der Moste wurde, je weiter nördlich man sich bewegte, immer notwendiger. Die Kombination aus Klima, Verständnis für den richtigen Lesezeitpunkt und der Hang eher lieber mehr, als weniger zu ernten, bescherte vielen Winzern vor allem kaum reife Trauben mit sehr hoher, bissiger Säure und wenig innerer Reife und Fülle. Die Aussage der Qualitätspyramide im deutschen Weinbau von damals war eindeutig: je länger die Trauben am Rebstock hingen und je reifer und süßer sie geerntet wurden und je süßer der Wein, desto hochwertiger war er. Je nachdem also, wieviel Gramm Zucker der Most besaß, konnte der Winzer ihn als Qualitätswein vermarkten oder ihn sogar mit einem Prädikat adeln. Die Qualität nahm zu mit einem Kabinett und seinem etwas reiferen Grundmaterial, dann folgten die Spätlese aus vollreifen Trauben, die Auslese aus teilweise überreifen Trauben, die Beerenauslese mit den teilweise bereits rosinierenden Beeren, die Trockenbeerenauslese, die aussah wie ein Haufen verschimmelter Beeren und dann der Eiswein, der mindestens eine Beerenauslese sein musste und bei mindestens -7° Celsius geerntet und weiterverarbeitet werden musste. Irgendwie pragmatisch und sinnvoll. Irgendwie. Diese Zeit scheint längst der Vergangenheit anzugehören. Und doch hat ein Prädikat den Wandel der Zeit überlebt zu haben und sich sogar mit einer geschmacklichen Interpretation einen festen Platz in der deutschen Weinwelt erarbeitet: Der Kabinett oder liebevoll auch „Kabi“ genannt!

Weiswein_Kabinett-Stil

Historisch gesehen war der Kabinett früher der erste Wein, der edel genug war, um ins Cabinet, also in den Weinkeller, zum Reifen gelegt zu werden. Ein anderes Verständnis von Wein in der Gesellschaft und eine andere Gewichtung bei der Priorisierung der Dinge, die unbedingt zu einem guten Leben gehörten, war das Anlegen, Pflegen und auch Vererben des eigenen Weinkellers. Während heute der große Fernseher und das dicke Auto vor der Tür wichtig sind, legte sich der Mittelstand früher auch einen Weinkeller an, um sich abzuheben von der Arbeiterklasse. Ein Wein musste reifen, bevor er getrunken wurde, was sicherlich auch mit der Machart der Weine zusammenhing und beim Rotwein sicher noch deutlicher zum Vorschein kam, als beim Weißwein. Der starre Umgang mit dieser Regel hat im Laufe der Zeit bestimmt auch zu einer Form der „Verstaubung“ des Themas Wein mit beigetragen und sollte erst in den letzten Jahren durch eine Art der Entmystifizierung wieder deutlich mehr Menschen zum Wein führen, die sich zwischenzeitlich eher dem Bier zugewandt hatten.

Ein Kabi ist heute der Inbegriff für Trinkfreude und Lust am leichten Genuss. Klar soll er sein, er soll Strahlkraft besitzen, fröhlich sein und fröhlich stimmen, dazu „bekömmlich“, also mit wenig Alkohol daherkommen, die Säure soll beleben, erfrischen, den Gaumen clean halten. Und weil die Fruchtaromen so am besten zur Geltung kommen und wir alle mit lieblichem Wein begonnen haben, möchten wir in der „Kabi-Laune“ auch nicht lange über den Sinn des Weines nachdenken, sondern den Kopf ausschalten und einfach nur genießen. Daher darf der Kabi, ob aus dem Rheingau, Rheinhessen, der Pfalz oder eben auch von der Mosel gerne ein paar Gramm Restzucker aufweisen.

Und einen Kabi möchte ich ihnen heute in diesem Blogbeitrag etwas näherbringen: den Kabinett aus der Lage Graacher Himmelreich vom Weingut Schloss Lieser.

Vermutlich war es im Jahr 2000, als ich einen Termin beim Weingut Willi Schaefer ergattern konnte. Da ich gerade die Mosel für mich entdeckt hatte und die Faszination dieser einmalig schönen Weinlandschaft vollends verstehen wollte, reizte mich dieses Weingut natürlich sehr. Als „junger Wilder“ und Neuankömmling in der Weinszene wollte ich alles wissen, alles verstehen, alles schon getrunken haben. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir der Name Willi Schaefer immer wieder in Gesprächen mit erfahrenen Weinkennern begegnet. Was mir schnell auffiel war das Funkeln in den Augen der Erzähler, als dieser Name fiel. Sowohl das Internet, als auch Google waren noch nicht erfunden, in der Fachliteratur konnte ich nicht viel über das Weingut herausfinden. Damals bewirtschaftete der Senior gerade mal 3 ha und viele von den produzierten Weinen ging ins Ausland. Wenn man mal ein Dutzend Flaschen bekam, gehörte man zu den Glückspilzen und man hütete sie wie Schätze, öffnete einer der seltenen Flaschen nur, wenn sich wirklich kundiger Besuch ankündigte. Nach dem Rundgang durchs Weingut und der Besichtigung des Kellers, gewährte man mir auch einen Blick in die Schatzkammer, wo sie alle lagen, die Weine, die den Ruf des Weingutes wohl begründet hatten. Regale um Regale gefüllt mit alten Süßweinen aus den Lagen in Graach. Und als ich dann aus dem Weingut lief und noch die letzten Worte mit dem Senior wechselte, sagte er dann so etwas wie „und da kommen sie her, unsere Weine“ und deutete mit der einen Hand zur Seite. Ich folgte seiner Handbewegung und bemerkte, dass ich etwas Großes hinter mir hatte. Ich konnte etwas spüren, es war etwas hinter mir und schien nach mir zu rufen. Es war der Graacher Himmelreich, diese imposante Steillage, an dessen Fuß sich ein junger Weinverrückter mit dem großen Meister des Weingutes Willi Schaefer unterhielt. Für mich war es, als wenn sich dieser Gigant vor mir aufgebaut hatte und mir den Aufstieg zum Himmelreich ermöglichen wollte. Ich verstand, weshalb diese Lage genau diesen Namen trug. Für immer gespeichert. Für immer Gänsehaut.

Das, was den Graacher Himmelreich Kabinett vom Weingut Schloss Lieser zu einem besonders guten Wein macht, ist die Tatsache, dass er viele Dinge unter einem Hut bekommt, auf die es wirklich ankommt. Er ist auf den ersten Duft, auf den ersten Schluck sofort als Riesling zu erkennen: Pfirsich, Birne, auch etwas Aprikose. Seine Herkunft vom Schiefer ist auch nicht schwer zu erraten: Ich denke immer an den Geruch meiner Hände, nachdem ich ein großes Stück Schiefer aufgehoben habe, das vom Regen nass wurde. Und da der Schiefer und die Mosel fest miteinander verwachsen ist, schmeckt er eben ganz typisch nach Mosel. Auch Lagentypizität bringt er ins Glas: Frucht des Rieslings trifft auf die für den Himmelreich typische Kräuterwürze. Und all das, diese Abwechslung am Gaumen, das Spiel zwischen Fruchtsüße und Säure, zwischen Dichte und Leichtigkeit, bespielt der Kabinett von Thomas Haag über wahnwitzige 8% Vol. Alkohol.  Genau das ist es, was die Mosel weltweit so einzigartig macht, das ist es, was man nur sehr schwer widerstehen kann. Dieser Wein ist so etwas wie die Quintessenz von Geschichte, Tradition und Moderne. Und das aufs schmackhafteste interpretiert. Bravo, Thomas Haag!

Der Kabi, ein Weintypus mit absolutem Seltenheitswert und großartigem Alleinstellungsmerkmal!